Die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Mona Neubaur sind die klaren Wahlgewinner bei der Landtagswahl in NRW. Mit 18,2 Prozent erzielen sie ihr historisch bestes Ergebnis. Zudem generieren sie als einzige Partei auch absolute Zugewinne, können also gegen den Trend mobilisieren. Weit unter dem aktuellen Durchschnitt der Landtagswahlen ist die Wahlbeteiligung bei dieser Wahl, bei der nur 55,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben. Die Mobilisierungskraft der bislang oppositionellen Grünen dürfte einerseits der Neuaufstellung nach der Wahlniederlage 2017, andererseits aber der erfolgreichen Regierungsarbeit im Bund geschuldet sein. Ausgelöst durch Russlands Krieg in der Ukraine steigt die wahlentscheidende Bedeutung von Themen, die sich unmittelbar aus den Konsequenzen des Krieges ergeben und Zukunftsfragen wie Energiewende, Klimaschutz und Versorgungssicherheit in den Vordergrund rückt.
Bis auf die Grünen konnten alle anderen Parteien ihre Wähler:innen weitaus schwieriger zur Wahlurne bewegen. Gleichwohl ist es Henrik Wüst (CDU) gelungen, den Wettkampf mit Thomas Kutschaty (SPD) überraschend deutlich für sich zu entscheiden. Und dies, obwohl er im Bundesvergleich nach seiner kurzen Amtszeit seit Ende Oktober 2021 als Ministerpräsident mit einem eher schwach ausgebildeten Amtsinhaberbonus und einer vergleichsweise geringen Regierungszufriedenheit in den Wahlkampf ging. Die deutlichen Verluste für die oppositionelle SPD (-4,5 Prozentpunkte) und für die bislang mitregierende FDP (- 6,7 Prozentpunkte) stehen für weitere Verschiebungen im nordrhein-westfälischen Parteienwettbewerb. Bei einer relativ geringen Zufriedenheit mit der schwarz-gelben Regierungsarbeit haben insbesondere die Liberalen als Juniorpartner starke Verluste erfahren. Auch die AfD verzeichnet deutliche Stimmenverluste, sodass ihr der Einzug in den Landtag nur knapp gelingt.
Mit einem zweistelligen Zugewinn von 11,8 Prozentpunkten und sieben Direktmandaten ist den Grünen ein historischer Erfolg im bevölkerungsreichsten Bundesland gelungen. Dass der Zugewinn eng verknüpft ist mit den politischen Kernanliegen der Grünen und ihrer Handlungskompetenz wird dadurch unterstrichen, dass die bislang nicht im Parlament vertretene Spitzenkandidatin Mona Neubaur über das grüne Milieu hinaus noch vergleichsweise unbekannt ist.
Kompetenzwahrnehmung und Zutrauen in verantwortliches Regierungshandeln werden durch bundespolitische Dynamiken generiert, wo die Grünen mit ihrem Politikstil des lösungsorientierten Zupackens das Handeln der Ampelkoalition stark prägen. Gestützt wird dieses Zutrauen auch durch die hohe Popularität der Bundesminister:innen Annalena Baerbock und Robert Habeck, die mit ihren Themenschwerpunkten in der Außenpolitik und Energie- und Klimawende gerade in jenen Feldern positiv wirken und ausstrahlen, die derzeit von Bedeutung für Wahlentscheidungen sind.
Hohe Mobilität von Wähler:innen sorgt für Dynamik
Dem Wahlergebnis liegt eine in NRW nicht unübliche Mobilität von Wähler:innen zugrunde. Die Grünen gewinnen lagerübergreifend bei ehemaligen Wähler:innen von SPD (+260.000), CDU (+140.000) sowie FDP (+100.000) hinzu und können aus der dem Nichtwählerlager mobilisieren (+30.000). Die CDU profitiert besonders stark von Wählerströmen aus der FDP (+260.000), was ein klassisches Dilemma der FDP mit ihrer Verankerung im konservativ-bürgerlichen Lager beschreibt. Zugleich ziehen sich vormalige CDU-Wähler:innen in das Nichtwählerlager zurück (-190.000). Die SPD verliert Wähler:innen an die CDU (-30.000), gewinnt aber auch frühere FDP-Wähler:innen hinzu (+60.000). Der SPD gelingt es vergleichsweise schlecht, ihre Wähler:innen zu mobilisieren, von denen etliche der Wahlurne fernbleiben (-310.000).
Deutliche Altersunterschiede in der Wählerschaft zwischen den Parteien
Die CDU erfährt besonders deutlichen Rückhalt in der Wählergruppe der Über-60-Jährigen. Anders als bei der vorausgegangenen Wahl in Schleswig-Holstein liegt hier aber keine stärker gewordene mobilisierende Kraft der NRW-CDU zugrunde. Die Grünen mobilisieren Wähler:innen aller Altersgruppen, besonders stark Wähler:innen unter 35 Jahre. Hier werden sie stärkste Kraft und stehen damit deutlicher als zuvor bei einer Landtags- oder Bundestagswahl für die jüngeren Generationen. Mit dem Ausbau der grünen Wählerschaft in allen Altersgruppen scheint es, dass Wählerpotenziale, die sich bereits weit im Vorfeld der Bundestagswahl im Frühjahr 2021 abzeichneten, aber nicht abgeschöpft werden konnten, nun besser erreicht werden. Bedenken von potenziellen Wähler:innen bezüglich einer Regierungsbeteiligung von B90/Die Grünen scheinen mit dem pragmatischen und zukunftsorientierten Politikstil im Bund ausgeräumt zu werden.
Neue Koalition für Nordrhein-Westfalen
Mit der Wahl in NRW ist die letzte verbliebene schwarz-gelbe Koalition auf Landesebene abgewählt. Damit steht auch in NRW ein neues Farbspiel an, in dem die Farbe grün entscheidend sein wird.
Politisch mit einer klaren Mehrheit versehen wäre eine schwarz-grüne Koalition. Eine Ampelregierung nach dem Vorbild im Bund würde ebenfalls über eine Mehrheit verfügen, wäre aber mit Diskussionen über die Übersetzung von Wahlergebnissen in die Regierungsbildung verbunden. Zudem hat die SPD bereits als Reaktion auf das Wahlergebnis verkündet, im Grundsatz zwar für eine Ampel bereit zu stehen, der CDU aber zunächst für Sondierungen mit den Grünen den Vortritt zu lassen. Mit dem schwachen Resultat der SPD entfällt die Option einer rot-grünen Regierungsbildung, eine in der Bevölkerung nach wie vor durchaus unterstützte Regierungsformation. Als wenig aussichtsreich gilt hingegen die rechnerisch mögliche Koalition aus CDU und SPD.
Mit den Veränderungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sind Implikationen auf das Verhalten innerhalb der Ampelkoalition erwartbar. Die Signale aus den Bundesländern, die Zukunftsthemen wie Energiewende oder den Investitionsstau in der Infrastruktur eingebettet in einer sozialverträglichen Perspektive weiter anzugehen, sind kaum überhörbar.
Anmerkungen: Die Umfragedaten stammen aus der Infratest-Dimap-Vorwahlbefragung. Das vorläufige amtliche Endergebnis beruht auf den Angaben des Landeswahlleiters des Landes Nordrhein-Westfalens.